Vorfreude ist die schönste Freude. Dieses Sprichwort ist nicht alt geworden. Man hört es immer wieder, etwa wenn Eltern ihren Kindern das lange Warten auf das Weihnachtsfest erträglicher machen wollen. Wer etwas Schönes zu erwarten hat, für den ist das Warten eine Zeit der Freude.
Warten kann aber auch ganz anders für uns Menschen sein: Warten auf einen lieben Menschen, von dem man nicht genau weiß, ob er wirklich kommt, kann anstrengend sein. Oder das Warten auf eine ungewisse Diagnose kann einen mit lähmender Angst erfüllen. Harmlos dagegen das Warten auf den Zug, der Verspätung hat. Es gibt dieses Warten ins Ungewisse einer unklaren Zukunft hinein, das unsere Geduld bis zum Äußersten beanspruchen kann, wenn nicht sichtbar ist, was man zu erwarten hat und wie lange man warten muss.
Wir kennen dieses Warten. Die gegenwärtige Lage der Pandemie ist zur echten Geduldsprobe für uns geworden. Schon letztes Jahr haben wir Advent und Weihnachten unter Corona-Bedingungen gefeiert. Und vieles, was uns an Weihnachten an Besuchen, Begegnungen und persönlichen Traditionen wichtig ist, ging so nicht – und geht vielleicht dieses Jahr wieder nicht. Wir blicken zurück in ein „Corona-Jahr“ und sehen, welche Einschnitte, Verluste und Herausforderungen mit der Ausbreitung des Virus verbunden war und ist. Nicht erst jetzt fragen wir uns doch: Wie lange dauert das denn noch? Wie lange noch wird diese Pandemie unseren Alltag so einschneidend prägen? Wie lange müssen wir noch warten? Warten ist hier eine Zeit erschöpfender Ungewissheit, die zur echten Herausforderung werden kann. Dabei ist diese Wartezeit nicht eine Zeit der Tatenlosigkeit, da wir alle Anstrengungen unternehmen, die Seuche in ihre Schranken zu weisen; aber wir müssen dennoch einsehen, dass wir nicht alles in der Hand haben.
Unsere Welt, die sich gerne vorspielt, man könne alles machen und haben – und zwar am besten gleich und sofort – tut sich mit dem Warten überhaupt sehr schwer. Geduld ist nicht gerade eine sehr verbreitete Tugend unserer Gegenwart. Die gegenwärtige Lage erteilt uns eine klare Lektion: Wir Menschen haben nicht alles in der Hand, wir können nicht alles machen und haben; und so lehrt sie uns das Warten.
Die Adventszeit lehrt uns auch das Warten. Aber es ist ein ganz anderes Warten: Es ist erfüllt von der Erwartung, dass Gott kommt, ja dass er uns seine Gegenwart schenkt, die diese Welt ganz heilt. Der Advent ist das erwartungsvolle Zugehen auf das Weihnachtsfest, in dem wir bekennen, dass Gott Mensch geworden ist in Jesus Christus. Weihnachten nimmt also ein Ereignis in den Blick, das die Welt entscheidend verändert hat und in dessen Mitte Christus selbst steht. Dieses Ereignis bringt dem Menschen eine neue Lebensperspektive: Gott selbst hat wirklich unsere Welt berührt, hat wirklich unser Leben geteilt, mit allem, was dazu gehört, auch mit Sterben und Tod. Im auferstandenen Christus vollendet sich alles: Er, der unsere Zeit geteilt hat, teilt mit uns nun seine Ewigkeit.
Adventliches Warten ist also kein erschöpfendes Warten in eine ungewisse Zukunft hinein. Adventliches Warten ist getragen von der gläubigen Gewissheit, dass Gott uns nahe ist, dass seine Zukunft für uns das Leben in Fülle ist. Von diesem großen Erwarten ist das ganze Leben des gläubigen Christen durchdrungen. So wird das ganze Leben zum Advent; und so bleibt dieses Leben durch alle Herausforderungen, Anfechtungen und schmerzlichen Erfahrungen hindurch doch immer auch eine Zeit der Freude. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine frohe und gesegnete Weihnacht, Gesundheit und Gottes Segen für das kommende Jahr.
Pfarrer Klaus Nebel, Stadtdekan