St. Bonifatius Wiesbaden

Aus dem Vollen schöpfen

GemeindebriefPhilippe Jaeck

Vom Sammeln von Sommerklumpen oder wie ich meinen Urlaub mit in den Alltag nehmen kann

Im Buch „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren wird das Mädchen am Ende des Sommers ganz wehmütig… Sie spürt, dass es langsam Herbst wird und danach ein langer Winter folgt. In einer ähnlichen Abschiedsstimmung befinde ich mich jedes Jahr aufs Neue im September, wenn ich nach dem Sommerurlaub zurück in meinen Alltag kehre. Endlich hatte ich mal Zeit für die Dinge, die sonst immer auf der Strecke bleiben: Auf der Terrasse ein gutes Buch zu lesen, Herzensmenschen zu besuchen, die ich schon ewig nicht gesehen habe, an einem heißen Tag Abkühlung in einem Badesee zu suchen, Urlaub am Meer bzw. in den Bergen zu machen oder bis tief in die Nacht draußen zu sitzen und Sterne zu schauen.

Nach ausgiebiger Erholung ist sogar mein vorher ziemlich leerer innerer Akku wieder etwas mehr aufgeladen durch all die Dinge, die mir im Urlaub dabei helfen, neue Energie und Kraft zu tanken. Frisch gestärkt, kann ich mich auch wieder den kleinen und größeren Herausforderungen meines Lebens stellen und aus dem Vollen schöpfen. Trotzdem würde ich die Glücksmomente des Sommers, genau wie Ronja Räubertochter, nur allzu gerne festhalten können. Denn leider weiß ich, dass es zurück aus dem Urlaub meist nicht lang dauert, bis der stressige Alltag mich wieder einholt. Hilft da wirklich nur Augen zu und Durchhalten bis zum nächsten Sommerurlaub?

Ronja Räubertochter ist der Überzeugung, dass die Erfahrungen des Sommers sie in der kalten Jahreszeit wärmen und nähren werden. So sagt sie zu ihrem Freund Birk voller Freude: „Ich sammle mir einen großen Sommerklumpen zusammen, und von dem werde ich leben, wenn es nicht mehr Sommer ist.“ Was, wenn ich es ihr am Ende dieses Sommers 2022 gleichtun würde? Wenn ich mir ebenfalls einen großen Sommerklumpen zusammen sammeln würde, mit allem, was mich im Urlaub erfüllt und zum leuchten gebracht hat? Was, wenn ich diese Dinge mit in meinen Alltag nehme und versuche, ein oder zwei Dinge davon auch außerhalb des Urlaub zu integrieren?

Vielleicht werde ich es nicht schaffen, stundenlang zu lesen. Aber vielleicht kann ich eine halbe Stunde Lesen am Abend als festes Ritual einbauen. Vermutlich werde ich im Alltag schwer regelmäßig einen ganzen Tag am Badesee hinbekommen. Aber das Vorhaben, einmal die Woche für eine Stunde Schwimmen zu gehen, lässt sich dagegen bestimmt gut umsetzen. Anstatt eine ganze Nacht lang Sterne zu gucken, könnte ich mir zum Abendessen ja einmal bewusst eine Kerze anzünden oder vor dem zu Bett gehen eine Viertelstunde Zeit nehmen, um den Tag Revue passieren zu lassen und die Kostbarkeiten meines Alltags zu entdecken. Einmal angefangen, gibt es sicher zig kreative Möglichkeiten, auch nach dem Sommerurlaub mit den eigenen Kraftquellen in Kontakt zu bleiben…

Übrigens ermutigt uns nicht nur Astrid Lindgren in ihrem Kinderbuch „Ronja Räubertochter“ dazu, aus der Fülle heraus zu leben. Ein Blick in die Bibel verrät mir, dass auch Gott uns Menschen dazu einlädt, immer wieder aus dem Vollen zu schöpfen. Im Johannesevangelium heißt es zum Beispiel: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10).“ In diesem Sinne wünsche ich uns allen ganz viel Erfüllung beim Sammeln der eigenen Sommerklumpen!

Stephanie Hanich, Pastoralreferentin
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